23. February 2006
Sofortsache !
22.02.06
Sofortsache !
Einheitspapier:
Neufassung der Vordrucke 0733,0734,0737,0738,0747,0748,0749,0750,0761,0779
und 0780
Die nachstehend wiedergegeben Vordrucke der Drucknorm 2005 können ab sofort verwendet werden. Die bisher gültigen Drucknormen dieser Vordrucke können noch bis zum 31.Dezember 2005 mit der Maßgabe aufgebraucht werden, dass geschlossene Fenster („XXX“), die ab dem 1. April 2005 auszufüllen sind, leserlich überschrieben werden. Diese sind das Feld Nr. 42 in den Vordrucken 0737,0738,0747,0748, 0779 und 0780, das Feld in den Vordrucken 0749 und 0750, die Feldernrn. 35 und 40 in den Vordrucken 0733 und 0734 und die Feldernrn 17a, 35 und 40 im Vordruck 0761. Die mit der Drucknorm 2005 geöffneten Felder sind jedoch erst in den m-f-u-Anmeldungen auzufüllen, die ab dem 1. April angegeben werden.
Auf das Merkblatt zum Einheitspapier - Ausgabe 2005 ( insbesondere das Verzeichnis, der für die m-f-u-Verfahren verlangten Angaben ) weise ich hin.
Austauschblätter
uwBwg
Sie meinen natürlich die obigen Beamtenschimmel galoppieren - frei erfunden - zu Ihrem Amüsement.
Weit gefehlt ! ( siehe Vorschriftensammlung der Bundesfinanverwaltung
N 23 2005 Nr. 94 )
Posted by tilman hampl at 06:05 PM in Ministerium f. Mögliches
28. November 2005
Etwas Einzigartiges und Neues
Etwas Einzigartiges und Neues
Bahar Erbil
Sie habe schließlich “wie eine Deutsche” gelebt, so äußerten sich drei türkische Schüler aus Berlin über den Tod der 23-jährigen Hatun Sürücü, die mutmaßlich von ihren drei Brüdern auf offener Straße an einer Bushaltestelle in Berlin-Tempelhof erschossen wurde. Daraus stellt sich für mich zuerst die Frage: “Was hatte sie getan, dass sie in den Augen einiger ihrer Landsmänner den Tod verdiente?” Folgendes: Nach dem sie mit 15 Jahren in der Türkei mit ihrem Cousin verheiratet wurde, trennte sie sich kurze Zeit später von ihm und kehrte schwanger nach Berlin zurück, wo sie als Kind türkisch-kurdischer Eltern aufgewachsen war. Hier legte sie ihr Kopftuch ab und hatte in der Folgezeit größere Schwierigkeiten mit ihren Eltern. Sie zog sodann in ein Mutter-Kind-Heim und machte hier ihren Hauptabschluss nach. Die alleinerziehende Mutter begann anschließend eine Ausbildung zur Elektrotechnikerin und hätte in einem Monat ihre Gesellinnenprüfung ablegen sollen, wäre sie nicht erschossen worden. Es heißt, dass sie eine freundliche, lebensfrohe Frau war, die tapfer ihren Weg ging. Sie sei selbstbewusst und zielstrebig gewesen und hätte viele Freunde gehabt, mit denen sie gern ausging. Darüber hinaus hätte sie einige Liebesgeschichten, auch mit deutschen Männern, gehabt. Alles in allem war sie eine junge, moderne Frau mit klaren Vorstellungen von ihrer Zukunft.
Und was war nun so verwerflich an ihrer Lebensweise? Ihr Bruder äußerte gegenüber einer türkischen Zeitung, sie hätte begonnen wie eine Fremde zu leben. Demnach lebte sie, nach seiner Auffassung, nicht mehr türkisch. Auch ich musste mir einige Male von meinem türkischen Ex-Freund anhören, dass ich ja wie eine Deutsche leben würde; jedenfalls hätte ich fast nichts mehr türkisches an mir. Diese Äußerung, die mehr einen Vorwurf als eine Feststellung darstellte, verblüffte mich, da ich mich eigentlich immer als eine waschechte Türkin fühlte. Für mich gab es da nie etwas zu deuteln. Daher stellte ich mir irgendwann die Frage: “Was ist denn nun typisch türkisch, falls es so etwas geben sollte?” Wo liegen denn die wesentlichen Unterschiede zwischen der türkischen und deutschen Lebensweise? Ausgehend von meiner eigenen Erziehung und meinem sozialen Umfeld werde ich versuchen einige Charakteristika der türkischen Erziehung herauszuarbeiten.
Meine Kindheit und Jugend
Geboren und aufgewachsen bin ich in Berlin-Kreuzberg. Diese Tatsache allein spricht schon Bände über meine Sozialisation, wenn man weiß, dass dieser Bezirk unter den Berlinern auch als Kleinasien bezeichnet wird. Für viele ist Berlin-Kreuzberg ein feststehender Begriff. Für diejenigen, die davon nichts gehört haben und nicht recht wissen, was sie sich darunter vorstellen sollen, hier ein kleine Einführung in den Bezirk meiner Kindheit und Jugend. Berlin-Kreuzberg liegt im Herzen Berlins und ist im wahrsten Sinne des Wortes multi-kulti. Das Stadtbild ist, wie schon damals, geprägt von der alternativen Szene, mit ihren vielen bunten Cafés, Kneipen und Läden. Punks versammeln sich hier alle meterweit. Obdachlose und Betrunkene geben sich die Hand und nicht zu vergessen die 1. Mai-Randalen vor unserer Haustür, die wir als Kinder nachts von unseren Fenstern live mitverfolgen konnten und sehr aufregend fanden. Alles in allem ein sehr bewegter Stadtteil.
Was allerdings Kreuzberg zu Kreuzberg macht, ist wohl der hohe Ausländeranteil. Menschen aus aller Welt, die hier ein Stückweit ihr Zuhause aufgebaut haben und versuchen, ihrer Herkunft treu zu bleiben und so das Stadtbild wesentlich mitgeprägt haben, sind hier anzutreffen. Vor allem ist es aber die türkische Bevölkerungsgruppe, die Kreuzberg den Stempel “Kleinasien” bzw. “Kleinistanbul” aufgedrückt hat. Sie stellen den höchsten Ausländeranteil in diesem Bezirk dar. In keinem Stadtteil sind die Türken wohl so autark und gut organisiert wie hier. Vom türkischen Bäcker, Gemischtwarenhändler, Fischer, Fleischer, Zeitungs-, Buch- und Blumenhändler bis hin zu Musik-, Friseur- und Möbelgeschäften, Jugendvereinen, türkischen Cafés und Restaurants sowie türkischen Banken, Ärzten, Steuerberatern und Juristen ist hier alles anzutreffen. Sogar türkische Hochzeitssäle, ein Hamam sowie ein türkisches Kino und Theater sind hier vorhanden. Quasi ein türkischer Mikroorganismus mitten im Herzen Berlins, der die hier ansässige Bevölkerungsgruppe befähigt, ihre Bedürfnisse selbst zu befriedigen und unter sich zu bleiben, ohne auf andere Institutionen zurückgreifen zu müssen. Wenn ich auf meine Kindheit zurückblicke, so kann ich sagen, dass ich in Kreuzberg mit Ausländerfeindlichkeit keinerlei Erfahrungen gemacht habe. Man war ja unter sich. So ist es auch zu erklären, es mag vielleicht bizarr klingen, dass ich meine ersten richtig deutschen Freunde während des Studiums in Würzburg kennen lernte.
Natürlich gab es auch die kleinen Kontakte des Alltags zu den Deutschen, die hier sehr wohl auch wohnten und arbeiteten, denn schließlich gab es auch in Kreuzberg ALDI, PLUS und all die anderen Billigdiscounter, an deren Kassen deutsche Kassiererinnen saßen. Überspitzt könnte man sagen, dass die deutschen Berliner hier ziemlich gut integriert waren, so dass es keinerlei größere Probleme gab, außer dass unsere deutsche Nachbarin, die gleichzeitig auch Hauswartin war, jedes Mal, wenn wir uns im Treppenhaus trafen, darauf bestand, auf deutsch von uns Kindern gegrüßt zu werden und anderenfalls sich bei unseren Eltern beschwerte, weil wir ihr den gehörigen Respekt nicht zollten.
Bisweilen muss ich feststellen, dass seit der Wende (die von uns Kindern bewunderte voll bemalte, bunte Mauer befand sich lediglich zwei Straßen weiter) und der Sanierung der schönen Altbauwohnungen viele deutsche Berliner nach Kreuzberg gezogen sind und sich insoweit das Straßenbild auch sehr verändert hat. Kreuzberg ist nicht mehr das Kreuzberg, das ich verließ, um zu studieren.
Kurzum ich bin also in einem deutschen Bezirk mit starken türkischen Prägungen geboren und aufgewachsen. So ist es auch nicht verwunderlich, dass ich zwar namentlich auf eine deutsche Grundschule ging, selbstverständlich mit deutschen Lehrern. Allerdings saßen in der Klasse 30 türkische Schüler, die mehrheitlich noch nie Kontakt mit deutschen Kindern hatten, geschweige denn Deutschkenntnisse mitbrachten. Nur wenige von uns hatten den Kindergarten und die Vorschule besucht. Türkische Kinder wurden damals wie heute nur unter gemischten Gefühlen in die Hände deutscher Erzieher überlassen. Riskiert man doch, dass die Kinder deutschen Erziehungsmethoden und Wertmaßstäben unterliegen und ihrer eigenen Kultur entfremdet werden. Dass die Kinder in der Schule Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache und im Umgang mit ihren Mitschülern haben, sind für viele türkische Eltern vernachlässigenswerte Tatsachen, die man in Kauf nehmen muss, wenn man der eigenen Herkunft treu bleiben will. Am plastischsten kann man diese Problematik am Beispiel des Verzehrs vom Schweinefleisch festmachen. Ich bekam trotz der Hinweise meiner Eltern im Kindergarten zum Mittagessen Schweinefleisch in allen Variationen vorgesetzt (was mir, unter uns gesagt, auch schmeckte). Ständig wurde ich von Verwandten und Freunden gefragt, ob ich schon Schwein gegessen hätte, wie es denn wohl schmecken würde und mit dem Hinweis konfrontiert, dass es eine große Sünde sei, dieses zu verzehren. Ich leugnete fleißig und aß weiter. Mittlerweile habe ich zwar dem Verzehr abgesprochen, aber der Linseneintopf mit Wursteinlagen war ein Gedicht, den ich mein Lebtag nicht vergessen werde!
Kreuzberg gehörte wohl immer schon zu den sozial und wirtschaftlich schwächsten Bezirken Berlins. Dies mag wohl auch der Grund dafür gewesen sein, wieso sich hier viele ausländische Mitbürger angesiedelt haben. Die Mieten waren den Wohnungen entsprechend sehr niedrig. Zumindest die Türken hatten diesbezüglich keine hohen Ansprüche, da sie herkamen, um in kürzester Zeit soviel Geld anzusparen, um in der Türkei eine Existenz aufbauen zu können. So auch meine Eltern.
Mein Vater stammt aus einem kleinen Dorf der Provinz Burdur im Süden der Türkei und war das dritte Kind von insgesamt 9 Kindern, wobei die Kinder von zwei Müttern stammten. Mein Großvater gehörte nämlich noch zu der Generation von Männern, die sich zwei Frauen gleichzeitig leisten konnten. Mein Vater besuchte lediglich die Grundschule. Die Familie meines Vaters war als Betreiber einer Großhandlung für Stoffe über das Dorf hinaus sehr bekannt und wohl als wohlhabend zu bezeichnen, da sie den ersten Traktor im Dorf besaßen. Meine Mutter wurde im Nachbardorf groß, in dem aufgrund Lehrermangels die Schule geschlossen wurde, so dass meine Mutter nie zur Schule gegangen ist. Allerdings ist sie eine wirkliche Autodidaktin, da sie sich das Lesen und Schreiben selbst beigebracht hat. Sie kommt im Gegensatz zu meinem Vater aus sehr ärmlichen bäuerlichen Verhältnisse. Ihr Vater war aber als Dorfvorsteher und fesselnder Geschichtenerzähler sehr bekannt und in der Gemeinde hoch angesehen.
Nachdem mein Vater sich dem Willen meines Großvaters nicht unterwerfen, sondern seinen eigenen Weg gehen wollte, zogen meine Eltern aus der Gemeinschaft der Großfamilie aus und gingen nach Istanbul. Hier fand mein Vater schnell eine Stelle auf dem Bau und arbeitet sich rasch zum Vorarbeiter hoch. Aber sehr bald schon hörten meine Eltern von dem Anwerbeabkommen mit der Bundesrepublik. Deutschland suchte in den 60igern gesunde, fleißige Arbeiter, die mithalfen das Land aufzubauen. Dies stellte für meine Eltern eine Möglichkeit dar, zumindest in wirtschaftlicher Hinsicht sicher in die Zukunft schauen zu können. Nach vielen Diskussionen und einer gehörigen Portion Überredungskunst konnte meine Mutter denn auch meinen Vater überzeugen, sie nach Deutschland, in die Fremde, ziehen zu lassen, in ein Land, das sie nur vom Hören Sagen kannten, in dem man viel Geld verdienen konnte und die Bewohner alle Gottlose waren.
Da von der Bundesrepublik Frauen als besonders leistungsfähig eingestuft und daher bevorzugt behandelt wurden, sollte mein Vater mit den beiden kleinen Töchtern zunächst in der Türkei bleiben. Nach vielen ärztlichen Untersuchungen, die die Leistungsfähigkeit meiner Mutter bescheinigten und der schweren Entscheidung, das ungeborene Leben in ihr entfernen zu lassen, erhielt meine Mutter die Zusagen der Bundesrepublik, einreisen zu dürfen. Die Töchter wurden sicher bei den Großeltern untergebracht und meine Mutter reiste im Jahre 1968 aus nach Deutschland. Nach einigen Monaten folgten ihr mein Vater und meine beiden Schwestern. Ziel war es gerade soviel Geld zu verdienen, um sich später in der Türkei eine eigene Existenz aufbauen zu können. Diesem Ziel entsprechend zog man in eine kleine Wohnung in Berlin-Kreuzberg mit einer ebenso kleinen Miete.
An unsere erste Wohnung kann ich mich nicht erinnern. Aber die zweite Wohnung, in der ich 16 Jahre meines Lebens mit weiteren vier Geschwistern verbrachte, war eine 2 1/2 – Zimmerwohnung in der Naunyn-/Ecke Adalbertstraße. Bis zur Generalsanierung der Wohnung im Jahre 1984 hatten wir keine eigene Toilette in der Wohnung. Vielmehr teilten wir uns mit unseren Nachbarn eine Toilette im Treppenhaus. Auch ein Bad stand uns bis dahin nicht zur Verfügung. Stattdessen wuschen wir uns in einer großen hellgrünen Plastikwanne, wo wir Kinder nacheinander hineinhüpften. Damals empfand ich das nicht als sonderlich schlimm, da fast jede meiner Freundinnen in ähnlichen Verhältnissen lebte und dies eben unser Alltag war. Etwas anderes kannten wir nicht. So lebten die Türken in Berlin-Kreuzberg in den 70ern und Anfang der 80er. Jetzt würde ich das Leben in so beengten und bedürftigen Verhältnissen als unhaltbar bezeichnen. Es erscheint alles wie eine ferne Erinnerung, die mehr unwirklich als wirklich ist.
Das Aufwachsen mit vier weiteren Geschwistern hatte seine Vorteile, aber ganz sicher auch seine Schattenseiten. Neben den ewigen Entbehrungen und Rücksichtnahmen machte mir vor allem die mangelnde Intimsphäre zu schaffen. Denn wie lebt es sich denn mit sechs weiteren Personen in einer 2 1/2 – Zimmerwohnung? Das Wohnzimmer war unser gemeinsamer Aufenthaltsraum, in den ich nur ging, um entweder mit der Familie zu essen, was unter uns gesagt für mich immer eine Qual war, da wir ständig damit rechnen mussten, dass wegen irgendeiner Nichtigkeit unser Vater den Suppentopf gegen die Tür schleuderte und wir das dann weg machen durften, oder um mir im Fernsehen die Helden meiner Kindheit anzusehen, die da waren Biene Maja, Heidi, Bugs Bunny und natürlich Tom und Jerry. Dann gab es das Schlafzimmer meiner Eltern, in dem auch mein Bruder untergebracht wurde. Wir vier Schwestern durfte uns das Kinderzimmer teilen, wobei das praktisch so aussah, dass ich mich in mein Bett verkroch und den lieben schönen Tag Bücher las, die ich mir wöchentlich aus der Stadtbücherei auslieh. Ich kann mich erinnern, dass meine Mutter irgendwann in unser Zimmer gestürmt ist, weil ich es wieder mal abgelehnt hatte, mit der Familie spazieren zu gehen, und mir drohte meine Bücher wegzuschmeißen, da ich mich langsam zu einem asozialen Kind entwickeln würde. Das bewirkte aber nur herzlich wenig, denn ich lebte weiter nach dem Motto: My bed, my castle. Mein Bett war mein Reich, eine Art einsame Insel, und die Bücher meine besten Freunde. Aus dem Chaos des ach so idyllischen Familienlebens und der paradoxerweise nie zur Ruhe kommenden trägen Monotonie des Alltags konnte ich in Traumwelten flüchten, die ich mit Hilfe von Astrid Lindgren, Erich Kästner und Alfred Hitchcock konstruierte. Das war wohl das schönste an meiner Kindheit.
Erst heute, lange, lange Zeit später, weiß ich die Geborgenheit, die Nähe und Sicherheit einer Großfamilie zu schätzen. Der Kraft und dem bedingungslosen Zusammenhalt meiner Familie trotz aller Widrigkeiten habe ich vieles zu verdanken. Keinen meiner Lieben möchte ich auch nur eine Sekunde missen. Auch dies macht eine türkische Familie aus.
Ein weiteres Klischee, das sich in meiner Familie bestätigen lässt, ist wohl das Gebären von Kindern bis schließlich ein gesunder Junge das Licht der Welt erblickt, der dann den Namen der Familie weiter führen wird. Allerdings stellt unsere Familie insoweit eine Ausnahme dar, als dass meine Mutter, und nicht mein Vater, unbedingt einen Sohn haben wollte. Dazu muss man aber auch wissen, dass mein älterer Bruder Yalçın, der nach zwei Töchtern auf die Welt kam, mit drei Jahren an einem Gehirntumor in Ankara verstorben war. Eigentlich war mit seiner Geburt schon die Fortpflanzungstätigkeit meiner Eltern als abgeschlossen betrachtet worden. Aber nach Yalçıns Tod entschloss man sich weiter zu probieren. Dann kam ich. Nach insgesamt zwei geschlagenen Versuchen (fehlgeschlagen, da nun lediglich vier Mädchen auf der Welt waren), wurde das jüngste nun endlich ein Bub und bekam bezeichnenderweise auf Drängen meiner Geschwister den Namen “Der Geborene” (Do_an). Was für ein Segen für meine Eltern, auch wenn sie gegen den Widerstand der beiden älteren Töchter gestoßen waren. Schließlich war meine Mutter bei der Geburt 42 Jahre alt und nicht mehr die jüngste. So ist es auch zu erklären, dass zwischen meiner ältesten Schwester und meinem Bruder 20 Jahre liegen. Eine kaum überwindbare Schere.
Vergleiche ich die Kindheit von uns Mädchen mit dem meines Bruders haben wir es alle wegen der sehr autoritären Erziehung unseres Vaters sicherlich schwer gehabt. Allerdings kam bei uns Mädchen erschwerend hinzu, dass wir als Mädchen geboren wurden und daher von vornherein einigen sittlichen Verboten und Geboten unterlagen, die das türkische Verständnis von Ehre und Moral für Töchter mit sich brachte.
Das wichtigste, das einem türkischen Kind schon sehr bald klar wird, ist die übergeordnete Bedeutung der Familie und deren Schutz. Alles andere hat sich dem unterzuordnen. Oberhaupt der klassischen türkischen Familie ist der Vater und er ist die letzte Entscheidungsinstanz für alle für die Familie erheblichen Fragen. Jeder Schritt, der getan wird, muss dem Willen der Familie, sprich dem Willen des Familienoberhauptes entsprechen. Eine abweichende Meinung wird nicht toleriert. Eigene Entscheidungen, die unter Umständen sehr persönliche Dinge betreffen können, werden nicht geduldet. Anderenfalls riskiert man den Bruch mit der Familie. Dies alles geschieht zum Schutze der Familie. Die Eltern gehen in der Regel davon aus, dass das Kind nicht wissen könne, was für ihn gut und richtig ist. Diese Entscheidung haben daher die Eltern zu treffen. So mangelt es üblicherweise an Vertrauen gegenüber der Entscheidungskompetenz der Kinder; den Kindern mangelt es dagegen an Selbstvertrauen. Die Entwicklung zum selbständigen Menschen ist bei türkischen Familien eh so eine merkwürdige Sache. In vielen Bereichen des Lebens wird einem zwar die Entscheidungskompetenz von den Eltern abgesprochen. Allerdings, wenn es um Dinge geht, die die Eltern im alltäglichen Geschäft des Lebens überfordert, weil sie etwa nur mangelhafte Deutschkenntnisse haben, erwartet man von den Kindern, dass sie selbstsicher agieren und die Familieninteressen würdig vertreten. Wann sollte man das gelernt haben?
Besondere Bedeutung hat im türkischen Miteinander vor allem der gute Ruf der Familie. Die Integrität der Familie in der Gemeinde und in der Nachbarschaft darf nicht bezweifelt oder gar angetastet werden. Da kann es dann schnell geschehen, dass das Glück des eigenen Kindes in den entscheidenden Momenten zweitrangig ist. Dies kann sogar soweit gehen, dass eine einmal ausgesprochene Verlobung, womit die Familie ihr Ehrenwort für eine spätere Hochzeit gegeben hat, bis zum bitteren Ende, nämlich der Trauung, gegen den Willen der Tochter fortgesetzt wird. Es wäre auch eine viel zu große Schande, seinem Wort untreu zu werden. Da riskiert man lieber das Unglück der Tochter als das man ein Fehler zugesteht. Bevor man sich versieht, ist man dann ein Opfer der Zwangsverheiratung. Typisch für türkische Mütter ist daher der Ausruf: “Was werden die Leute von uns denken!” Auch das folgende türkische Sprichwort ist in diesem Zusammenhang sehr beliebt: “Die Münder der Leute sind eben keine Tüten, die man zusammenziehen könnte.” Gewiss beabsichtigen diese Reglementierungen nicht die Schädigung des eigenen Fleisch und Blutes. Nein, im Gegenteil man will nur das vermeintlich Beste für das Kind. Denn, es vor allem und jedem zu schützen, ist die wichtigste Aufgabe für türkische Eltern. So haben es unsere Eltern gesehen und gelernt. Etwas anderes kennen sie nicht. Insoweit kann man ihnen schwerlich etwas vorwerfen. Aber das Verständnis, gegen den Willen des Kindes ihm sein vermeintliches Glück aufzwingen zu wollen, gehört in ein früheres Zeitalter und muss konsequent durch Aufklärungsarbeit und Bildung bekämpft werden. Einige Traditionen müssen nun einmal dem höchsten Gut, der Menschenwürde, weichen.
Für mich bedeuteten diese Schutzmaßnahmen meiner Eltern in der Praxis, dass ich außer der Schule kein eigenes Leben hatte. Die Schule war, anders als in manch anderen türkischen Familien, für meinen Vater immer sehr wichtig. Wir Kinder sollten alle eine gute Ausbildung bekommen und später einer anständigen Arbeit nachgehen. Meine Mutter predigte uns Mädchen, die finanzielle Unabhängigkeit sei das wichtigste für eine Frau. Die Liebe wäre sekundär. Männer kämen und gingen…
Alles, was mit der Schule zu tun hatte, wurde mir in der Regel erlaubt. Dies war in anderen Familien anders. Für einige Mädchen in meiner Klasse war es zum Beispiel ein Problem, mit auf die Klassenfahrt zu fahren. Für mich gab es in dieser Hinsicht überhaupt keine Beschränkungen. Auch die Teilnahme am Schwimm- oder Sexualkundeunterricht war bei uns Zuhause kein Thema. Insoweit war mein Vater wohl sehr liberal, was er mir auch heute noch ab und zu unter die Nase reibt. Er vergisst aber, dass er uns Kindern dafür andere Sachen vorenthalten oder verboten hat, die ebenso wichtig für unsere Entwicklung gewesen wären. In Wirklichkeit reichte seine liberale Einstellung doch nicht so weit.
Außerhalb der Schule gab es nicht viel, was ich tun konnte, denn ein anständiges türkisches Mädchen bleibt in seiner Freizeit Zuhause und treibt sich nicht in der Weltgeschichte rum. Meine Versuche, irgendwelchen Hobbys außerhalb unserer Wohnung nachzugehen schlugen fehl. Das hatte ich relativ schnell begriffen. Nur ein einziges und letztes Mal bat ich meinen Vater inständig und aus ganzem Herzen darum, in einem türkischen Folkloreverein Volkstänze lernen zu dürfen. Er untersagte es mir, da die Übungsräume sich im Gebäude der türkischen Arbeiterwohlfahrt befanden und hier Männer ein- und ausgingen. Damals war ich gerade mal neun oder zehn Jahre alt. Seltsam, wie früh doch schon die Jungfräulichkeit und der gute Ruf der Tochter geschützt werden musste. Meine Mutter, eine in der Regel stille, passive Frau, wusste um meine große Leidenschaft für Tänze, aber sie konnte nichts unternehmen. Mein Vater als pater familias hatte sein letztes Wort gesagt. Es hätte nur unnötigen Streit mit meinem Vater gegeben, geändert hätte es aber nichts. So blieb mir nichts anderes übrig, als meine Freizeitaktivitäten in die Schule zu verlegen unter dem Vorwand, länger Unterricht zu haben, denn eines war mir klar, die Schule war für meine Eltern heilig. Ohne dass sie es wussten, spielte ich hier Fußball in der Schulmannschaft, lernte zu schneidern, töpferte, tanzte Volkstänze aus aller Welt und arbeitete in der Schülerzeitung. Mein Vater wollte eben belogen werden. So lebte ich nunmehr in zwei Welten: morgens Deutschland, abends Türkei!
Diese Verbote gingen soweit, dass ich mich nur noch heimlich mit meinen Freundinnen traf, gleich nach der Schule bis mein Vater aus der Arbeit kam. Er war einfach gegen diese kindischen Zusammenkünfte. Was brauchte ein Kind mehr als seine Familie und die Schule. Daher gab es auch keine Spielnachmittag mit anderen Kindern, keine Geburtstagfeiern, noch nicht mal Lerntage. Nur einmal hatte ich vorgegeben, ich würde mit meiner Freundin für einen Test lernen. Natürlich hatte ich mich nur zum Quatschen mit ihr verabredet. Als ich kam, hieß es, dass ich das Lernen mit anderen unterlassen solle. Ich müsse lernen, alleine zu Recht zu kommen. Dies tat ich dann auch. Zum Glück war ich nie schlecht in der Schule, so dass ich auch keiner Hilfe bedurfte. Wen hätte ich denn auch bei Schwierigkeiten fragen können, meine Eltern?
Anders als in deutschen Familien können türkische Eltern in einer Reihe von Angelegenheiten für ihre Kindern keine Stütze sein, ausgenommen in finanziellen Fragen natürlich. Die meisten sind, trotzdem sie seit nunmehr über 30 Jahren in Deutschland leben, nicht der deutschen Sprache mächtig und ohne diese geht bekanntlich leider nichts. Die Schwierigkeiten fangen schon bei kleinen Dingen wie das Helfen bei Hausarbeiten an und gehen über das verständnislose Anwesendsein an Elternabenden bis hin zum hilflosen Stammeln bei Ärzten und auf Ämtern. Und jedes Mal ist man als Kind und Jugendlicher auf sich gestellt und muss mit den Problemen alleine klar kommen. Aber damit ist es nicht getan. Man muss darüber hinaus auch ein Leben lang für alle Sorgen und Bedürfnisse der Eltern herhalten, angefangen beim Arztbesuch bis hin zu Bank- und Behördengängen. Sie sind halt ohne die Sprache verdammt hilflos. Aber zum Glück haben einige Ämter und Dienstleister ihre Formulare und Schreiben ins Türkische übersetzt, so dass man nun nicht immer springen muss, wenn ein Brief ankommt. Aufgrund dieses Sprachproblems ist bei den in Deutschland lebenden Türken die Generationenrolle verkehrt. So lernen türkische Kinder die Selbständigkeit.
Zurückkommend auf meine Freundschaften, war es für mich als Kind schon selbstverständlich, dass ich nur Freundinnen haben durfte und keine Freunde. Niemals hätte ich gewagt, mal einen Schulkameraden zu uns nach Hause oder zur familieninternen Geburtstagsfeier mitzubringen. So ein Gedanke hätte sich nie in meinen Gehirngängen verirrt. In diesen Dingen war mein Vater immer schon sehr streng gewesen. Die Ehre seiner Töchter sollte bis zu deren Verehelichung unbefleckt sein. Eine Rechnung, die nicht ganz aufging, weil sie ohne uns gemacht wurde. An einen richtigen Freund im Sinne einer Beziehung war daher gar nicht zu denken, jedenfalls nicht offiziell. Aber natürlich haben wir alle auf dem inoffiziellen Wege unsere Erfahrungen gesammelt. Man lebte nach dem Motto: “Was Papa nicht weiß, macht ihn nicht heiß!”. In der Regel wurde unsere Mutter früher oder später in unsere Machenschaften eingeweiht. Sie war unsere geheime Verbündete, auch wenn sie nicht alles richtig fand, was wir taten.
Und genau hier, an diesem sensiblen Punkt tut sich auch die Doppelmoral des türkischen Verständnisses von Ehre und Sittsamkeit kund. Freund, Beziehung, Sexualität war für uns Mädchen ein Tabuthema. Es war einfach verboten. Aus! Basta! Aber bei meinem Bruder sah das ganz anders aus. Er durfte vor ein paar Jahren seine Freundin, auch noch eine Türkin, problemlos mit zu uns nach Hause und sogar in sein Zimmer mitnehmen. Es war auch für unsere Eltern klar, dass er mit ihr seine ersten sexuellen Erfahrungen sammelte. Also wieso durfte er und wir nicht? Und galten diese Regeln nur für die eigenen Töchter? Was war mit den Töchtern anderer? Die Antwort ist einfach: Es wird eben, wie in vielen anderen Dingen auch, mit zweierlei Maßstäben gemessen. Eine andere Erklärung gibt es nicht.
Es ist ja auch nicht so, dass dieses merkwürdige Verständnis von Ehre lediglich auf die Sexualität beschränkt ist. Nein, es umfasst dein gesamtes Leben. Alle nur denkbaren Lebensbereiche wie Kleidung (kurze Röcke und armfreie Oberteile durften wir nicht tragen, aber paradoxerweise Bikini am Strand und im Schwimmbad schon), Freizeitgestaltung, Freunde und dein Verhalten in der Öffentlichkeit werden reglementiert. Ich kann mich gut erinnern, dass mein Vater mich mal beim Lesen der Bravo erwischt hatte. Er nahm die Zeitschrift an sich und blättert durch bis er auf die “gewissen” Seiten stieß, die uns Jugendliche ein Stückweit helfen sollten, mit unserer Sexualität zu recht zu kommen. Er war erbost. Seinen Gesichtsausdruck werde ich niemals vergessen. Er fragte mich, was ich denn für schmutzige Sachen lesen würde und verbot es mir. Ein weiteres Verbot, das ins Leere ging. Wo sollten wir die Infos denn sonst herbekommen? In den klassischen türkischen Familien findet nämlich so etwas wie Aufklärung nicht statt. Man kann sich als Mädchen glücklich schätzen, wenn man wegen der ersten Menstruation zu seiner Mutter rennt und von ihr nicht weggescheucht wird. Über diese Sachen redet man eben nicht. So, als ob man sich dafür schämen müsste. Alles wird totgeschwiegen.
Beginnend mit meiner Pubertät fand bei mir ein Selbstfindungsprozess statt, der weder für mich, aber noch weniger für meine Eltern angenehm war. Ich kam auf eine Realschule in Berlin-Charlottenburg, in eine Klasse mit deutschen Mitschülern und “modernen” Türken. Mit modern meine ich einfache Sachen wie, dass meine Freundinnen Mitglied in Sportvereinen waren, Instrumente spielen lernten und auf Feten gingen. Alles Sachen, die ich nie durfte. Ich kapselte mich von meiner Familie ab, widersetzte mich und verkroch mich in meine Welt. Meine Familie war nur peinlich, rückständig und ungebildet. Sie passte nicht zu mir und meiner Lebenseinstellung. Ich schämte mich meiner Familie. Irgendwann kam ich nach Hause und schrie meine Mutter an, wieso sie denn unbedingt dieses Kopftuch tragen müsse. Die Mütter meiner Freundinnen würden sich alle modern anziehen. Ich bat meine Mutter, doch bitte einen Minirock zu tragen, schließlich hatte sie das schon in den Siebzigern getan. Meine arme Mutter! Sie war so hilflos und muss gedacht haben, ich drehe nun endgültig durch. Ich glaube, ich war unerträglich. Ich widmete mich meinen Büchern und der Schule und wurde zu einer guten und vorbildlichen Schülerin. Mir wurden eine Reihe von Ehrenämter übertragen und ich beanspruchte eine besondere Vertrauensstellung unter den Lehrern. Die Schule verließ ich als Schulbeste, wovon meine Eltern, so glaube ich, bis heute keine Kenntnis haben. Zur Zeugnisausgabe in der großen Aula, wo ich wegen meiner Leistungen gesondert geehrt wurde und auch ein kleines Dankeschön bekam, habe ich sie nicht eingeladen. Alle anderen Eltern waren mit Kamera und Fotoapparat anwesend. Wie stolz wäre mein Vater dagegen gewesen. Ich glaube, ich wollte ihm das nicht gönnen.
So habe ich die kulturellen Differenzen erlebt und meine persönliche Konsequenz daraus gezogen. Ich glaube, ein wesentlicher Unterschied zwischen den beiden Kulturen besteht darin, dass die Türken sehr gemeinschaftsorientiert leben, wobei die Familie und der familiäre Zusammenhalt eine besondere Bedeutung inne hat. Extrem ausgedrückt bedeutet dieser Kollektivismus, man lebt für andere. Das eigene Glück wird somit fremdbestimmt. Dreh- und Angelpunkt für die Integrität der Familie ist die Ehre, die Ehre der Frau. Es ist gewiss kein Zufall, dass in der türkischen Sprache allein für den Begriff “Ehre” fünf verschiedene Ausdrücke existieren. Die türkische Kultur hat daher ein extremes Verständnis von Gemeinschaft.
In der deutschen Lebensauffassung dagegen kommt dem Individuum eine besondere Bedeutung zu. Der Einzelne wird zum selbständigen, vollen Mitglied erzogen, der seinen Neigungen und Fähigkeiten entsprechend seine Persönlichkeit formen kann und die Freiheit besitzt, über sein Leben zu entscheiden. Die persönliche Freiheit des Einzelnen, der hochgelobte europäische Individualismus endet jedoch in der Regel vor der Haustür einer traditionellen türkischen Familie. Und genau an diesem Punkt kommt es zum Aufeinanderprallen der europäischen und der ländlich, türkischen Kultur. Kinder und Jugendliche, die außerhalb ihrer Wohnung in den Genuss der Individualität und Freiheit kommen, Achtung und Wertschätzung erfahren, als Individuum und nicht nur als unmündige Kinder betrachtet werden, möchten diese Behandlung auch Zuhause in ihren Familien verwirklicht sehen. Sie sind hin und her gerissen zwischen dem Gehorchen und Respektzollen und der Selbstverwirklichung, dem Tätigsein in eigener Sache. Diesen Spagat hinzukriegen, ist kein Leichtes. Dies nennt man dann wohl Kulturkonflikt.
Das Hier und Jetzt
Mittlerweile bin ich Volljuristin und lebe seit neun Jahren alleine. Mit dem Studium bin ich in eine für mich bis dahin fremde Stadt gezogen, um Abstand von meiner Familie zu bekommen und das Leben zu leben, das ich mir für mich vorstellte und das konträr zur Auffassung meiner Eltern war. In der Regel gibt es drei Möglichkeiten für ein türkisches Mädchen, seiner Familie zu entkommen: 1. Heiraten (wenn man Glück hat, hat man den Richtigen geheiratet und das Leid hat ein Ende), 2. Studieren und 3. Abhauen. Da ich in Liebesdingen nie ein glückliches Händchen hatte und ich den Bruch mit meiner Familie nicht riskieren wollte, blieb für mich nur die zweite Alternative übrig. Ja, ich habe mit dem Studium nicht angefangen, um eine akademische Ausbildung zu genießen, sondern bin lediglich dem Drang nach Selbstverwirklichung gefolgt. Es war mein Glück, dass mein Vater besonderen Wert auf unsere Ausbildung legte. Aber auch das ist so paradox. Zuhause durfte man sich nicht mal mit Freuden treffen, aber die Tochter zum Studieren alleine in eine fremde Stadt schicken, ohne jegliche Kontrolle! Das geht.
Mit dem gehörigen Abstand habe ich nun auch ein inniges Verhältnis zu meiner Familie. Ich sehe vieles nicht mehr aus der Sicht eines pubertierenden, launischen Kindes, sondern erkenne auch die schwierige Situation zweier vom Lande stammenden Türken, die ihr Land zum Wohle ihrer Familie verließen und sich in Deutschland mit für sie bis dahin völlig fremden Moralvorstellungen konfrontiert sahen und sehr wohl überfordert waren. Auch meine Eltern haben sich geändert, haben dazu gelernt, sich ein stückweit geöffnet. In einer Welt, die sich täglich ändert und sich weiterentwickelt, sind sie den Einflüssen der modernen, freiheitlichen Denkweise erlegen. Es braucht eben seine Zeit bis tief verwurzelte Werte aufgebrochen werden können. Wenn Menschen in einem anderen Land vornehmlich einen wirtschaftlichen Zweck verfolgen, nämlich soviel Kapital wie möglich zusammenzusparen, sind sie über diesen ökonomischen Bereich hinaus nicht gewillt, an einer Integration in die Wirtskultur mitzuarbeiten oder teilzuhaben. Leider muss teilweise zunächst einmal überhaupt der Integrationswille bei den hier lebenden Türken noch geweckt werden, bevor man mit der Integration beginnen kann. Es wird einem auch sehr einfach gemacht, unter sich zu bleiben und im selben Trott weiter zu machen. Die erste Generation hat daher nicht viel Schaden genommen, aber die zweite, die ja im direkten Kontakt zur einheimischen Bevölkerung ist, hat umso mehr darunter zu leiden. Dies müsste einer der Ansatzpunkte für das Vorantreiben einer sinnvollen Integrationspolitik sein. Möglicherweise würde es schon helfen, den ausländischen Mitbürgern das Gefühl zu geben, dass sie nicht mehr “nur Gäste” mit einem Rückfahrtticket in der Tasche sind, sondern ein fester Bestandteil dieses Landes.
Allerdings ist nun nicht alles Friede, Freude, Eierkuchen in meiner Familie, sondern es ist auch viel Ignoranz und die berüchtigte Doppelmoral mit im Spiel. Das Leben, das ich heute lebe, erscheint für meine Eltern mittlerweile vielleicht als sehr normal und durchschnittlich. Dies aber nur, weil sie meine Entwicklung mit mir erlebt haben, meine Hochs und Tiefs während des Studiums, meine Beziehungen und Freundschaften, mit allem, was dazu gehört. Hätten sie von einer dritten Person mit meinem Lebenslauf gehört, wären sie ganz sicher nicht so verständnisvoll und nachsichtig gewesen. Die eigene Tochter ist halt etwas anderes. Man ignoriert vieles, misst mit unterschiedlichen Maßstäben und kehrt so gern unliebe Tatsachen unter den Teppich. Meine Eltern wollen auch vieles nicht wahr haben, weil diese so verkehrt zu ihren beigebrachten Werten sind. So legt man den Mantel des Schweigens über alles Unangenehme. Es lebt sich so viel angenehmer.
Ich lebe ein Leben, das ich mir ausgesucht habe und wofür ich auch bereit bin, die Verantwortung zu übernehmen. Die Freiheit, die ich jetzt genieße, ist eine, die bei vielen in Deutschland lebenden, vor allem männlichen Türken verachtet wird, zumindest steht sie einer alleinstehenden Türkin nicht gut. Was gehört zu dieser Freiheit? Das Kleiden nach eigenen Vorstellungen, das Ausgehen mit Freunden, Männerbekanntschaften, die Freiheit erst im Morgengrauen Nachhause zu kommen, die Freiheit, das zu tun und zu lassen, was einem gut tut und nicht zu letzt, nur sich selbst Rechenschaft schuldig zu sein. Also Dinge, die für viele Deutsche selbstverständlich sind, aber keinesfalls für eine Türkin. Daher hat Hatun Sürücü “wie eine Deutsche” gelebt und den Tod in den Augen Einiger verdient. Ich und viele andere Geschlechtsgenossinnen demnach auch. Eine Unterhaltung mit dem Bruder meines Ex-Freundes hatte mir bewusst gemacht, welches Bild die türkische Gemeinde in Würzburg von mir hat. Er sagte mir, dass ich froh darüber sein soll, dass mein damaliger Freund mich verehelichen will. Dies wäre keineswegs selbstverständlich (dazu muss man wissen, dass ich schon vor ihm mit einem anderen Mann zusammen gewesen bin und keineswegs mehr jungfräulich war, wie in der Regel erwartet wird). Er bete, dass seine Töchter nicht vom rechten Weg abkommen, denn man wisse nicht, was das Leben bringe. Es könne sein, dass seine Töchter schlimmer werden als ich. Dem kann ich wohl nichts mehr hinzufügen.
Zum Glück denken nicht alles Türken so. Es ist grundsätzlich auch sehr schwierig von “den Türken” zu sprechen, da hier große Unterschiede bestehen. Es gibt sicherlich streng religiöse Familien mit einer ebenso rigiden Moralvorstellung, die u.a. die Tötung der Hatun Sürücü nachvollziehen oder gar begrüßen. Es gibt weniger religiöse Familien mit liberaleren Lebensvorstellungen. Aber es gibt auch enorm aufgeklärte oder angepasste Familien, die sich hinsichtlich ihrer Lebensweise kaum von Deutschen unterscheiden und ihren Töchtern alle Freiheiten gewähren.
Allerdings kann ich die Freiheiten, über die ich geschrieben habe und die für Deutsche so selbstverständlich sind, nicht unbedingt als typisch deutsch bezeichnen. Vielmehr sind sie typischerweise den aufgeklärten Gesellschaften zuzuordnen. Erst der Geist der Aufklärung bewirkte die Liberalisierung der Gesellschaft und gab dem Menschen den Wert, der ihm tatsächlich zukommt. Eine Aufklärung, wie sie der europäische Kontinent erlebt hat, wurde der Türkei nicht zu teil. Keineswegs soll das bedeuten, dass die Türken kein aufgeklärtes Volk sind. Diese Verallgemeinerung könnte ich mir nicht erlauben. Dies würde auch nicht der Wirklichkeit entsprechen, die ich nach meinem dreimonatigen Aufenthalt in der Türkei kennen gelernt habe. Ich habe viele Menschen getroffen, die im Geiste genauso Europäer sind wie ein Deutscher oder ein Franzose. Nur leider machen diese Menschen eben einen kleinen Teil der Bevölkerung aus und gehören meist einer bestimmten Schicht an oder sind Akademiker. In bestimmten Teilen der Türkei oder auch nur in wenigen Stadtteilen der Hauptstadt konnte ich mich als Frau wirklich frei bewegen, ohne durch meine Kleidung oder Art aufzufallen. Auch wenn ich dieses Land und seine Menschen aus tiefstem Herzen liebe und mich mit ihnen stark verbunden fühle, sehe ich auch, dass hier nicht nur auf wirtschaftlicher, rechtlicher oder politischer Ebene etwas getan werden muss, sondern insbesondere neue gesellschaftliche Impulse notwendig sind.
Es hat sich auch für mich herausgestellt, dass ich doch nicht 100%ig türkisch bin, wie ich immer gedacht habe. Ich habe während meines Aufenthaltes sehr viele deutsche Züge an mir entdeckt und festgestellt, dass ich mich nach Deutschland, meiner Heimat sehne. Ich liebe Deutschland und gehöre hierher. Ich weiß, wie ich mich gefühlt habe, jedes Mal als ich die deutsche Botschaft in Ankara besuchte. Ich war auf deutschem Boden, ein Stück Heimat! Auf eine typisch deutsche Weise waren sogar die Geranien in der Parkanlage nach Farben spiegelbildlich angeordnet! Das hat man in ganz Ankara nicht, aber in der Deutschen Botschaft! Dieses Gefühl Heimatboden unter den Füßen zu haben, hatte ich in Berlin, wenn ich auf dem türkischen Konsulat war, nie. Merkwürdig ist, dass ich mittlerweile auch eine gewisse Vaterlandsliebe zu Deutschland entwickelt habe, um nicht zu sagen Nationalgefühl, was übrigens vielen Deutschen aufgrund ihrer belastenden Geschichte nicht zugestanden wird.
Dies alles führt mich zu einem ganz eigenartigen Ergebnis: Ich habe eine sehr türkische Erziehung genossen; meine Muttersprache ist eindeutig türkisch, weil ich mit dieser Sprache fühle, schmecke, rieche und denke; viele Eigenarten der türkischen Kultur sind mein; ich habe auch das entsprechende türkische Nationalbewusstsein; meine Heimat ist aber Deutschland und ich habe eine Reihe deutscher Eigenschaften und Neigungen an mir und lebe nach europäischen Werten. Und es passt! Irgendwie habe ich meinen Weg gefunden und aus beiden Kulturen Werte und Normen zu einer persönlichen Symbiose vereint. Bin ich nun eine Deutsch-Türkin oder eine Türkin mit einer starken Beziehung zu Deutschland? Die Antwort ist nicht so wichtig. Feststeht, dass es etwas Einzigartiges und Neues ist.
Ankara, Würzburg im Sommer-Herbst 2005
Posted by tilman hampl at 06:59 PM in Ministerium f. Mögliches, Biographien